Claudia Haak 

Psychologie

 

Das Maß des möglichen Kontaktes bestimmt immer derjenige, der weniger Nähe möchte. Die Konsequenz daraus lautet, dass derjenige, der sich eigentlich mehr wünscht, sich auf das angebotene Maß einlassen muss, wenn er die Qualität der Beziehung nicht verschlechtern oder sie gar ganz verlieren möchte. Doch dieser Verzicht kann dazu beitragen, dass sich von einer gemeinsamen Basis ausgehend etwas ganz Eigenes und vielleicht viel Intensiveres entwickeln kann. Derjenige, der weniger wollte, kann sich verstanden, respektiert und sicher fühlen. Mit der Zeit fasst er dadurch häufig Vertrauen und kann allmählich größere Nähe zulassen.

Manche Menschen gehen nicht so weit, dass sie ihre eigenen Grenzen erreichen. Sie füllen nicht einmal ihr eigenes Revier aus. Doch das bleibt nicht lange so. So wie es in der Natur kein Vakuum gibt, drängen andere vor, breiten sich auf unsere Kosten aus. Auch hier sind Konflikte vorgegeben, doch Menschen, die ihr eigenes Revier nicht einnehmen, weichen eher zurück, sie geben eigenen Boden preis.

Seine Grenzen zu zeigen, sein Revier zu halten, das erfordert von uns, dass wir zu unserer Begrenztheit stehen, zu unseren Eigenheiten. Wir zeigen durch Grenzen Kontur. Erst dadurch werden wir für andere greifbar. Damit gehen wir ein gewisses Risiko ein: Sind wir mit unseren Besonderheiten für den anderen willkommen? Wir könnten immerhin abgelehnt und zurückgewiesen werden. Menschen, die ihr Revier nicht ausfüllen, zeigen sich nicht bei einer Begegnung. Wagt sich auch der andere nicht an seine Grenze vor, dann bleibt es oft bei einem freundlichen Winken aus der Ferne. Nähe ist dann nicht möglich. Begegnung findet nicht statt.

Die Kunst der Anpassung besteht darin, sich zugleich anzupassen und sich selbst dabei treu zu bleiben, seine Substanz zu erhalten, seine Werte nicht zu verraten, seine Richtung zu bewahren.
Ohne Zentrierung und Selbstwahrnehmung ist Abgrenzung nicht möglich.

Je mehr Reize du außen wahrnimmst, desto weniger bist du bei dir. Die Auswirkungen, wenn du stattdessen deine Füße und Beine, deinen Bauch, deinen Atem und natürlich deine Gedanken wahrnimmst, sind erstaunlich. Die Außenwelt tritt zurück. Sie wird ruhiger für dich und du bist weniger von den Reizen da draußen abgelenkt. Wer sich selbst wahrnimmt, verliert darüber hinaus auch weniger Energie, denn die Energie folgt der Aufmerksamkeit.

Für die Zentrierung heißt es, unsere Selbstwahrnehmung auf gesunde Körperbereiche zu richten.
Die Sorge für andere kann zu einem Ausweg werden, der uns davor bewahrt, unsere eigene Bedürftigkeit zu spüren.

Ein Problem ist nichts anderes als der Widerspruch zwischen einem (gedachten) Sollzustand und dem Ist-Zustand.

Der Abstreifer: Das lass ich draußen
Was möchtest du, wenn du zum Beispiel vom Einkauf oder von der Arbeit kommst, mit in dein privates Zuhause nehmen? Und was möchtest du lieber draußen lassen? Die Vorstellung vom Abstreifer oder der Fußmatte am Eingang, mit denen man sich vom Straßenstaub befreit, kannst du erweitern durch eine Eingangstür mit rundum laufenden Bürsten. Vielleicht handelt es sich sogar um rotierende Bürsten, so wie man sie von Autowaschanlagen kennt. Die Bürsten befreien dich von allem, was nicht zu dir gehört. Gerade beim Übergang vom Arbeitsalltag zum Feierabend kann diese Vorstellung die Abgrenzung erleichtern. Wann immer du in Zukunft eine Fußmatte siehst, kannst du sie mit dieser Funktion verbinden.

Gehört das zu mir?
Manchmal kann man die Aufgabe, sein Denken, sein Fühlen und seine Befindlichkeit nicht ausufern zu lassen, auch reduzieren – durch ganz einfache Fragen:

  • Sind das überhaupt meine Gedanken?
  • Sind das meine Gefühle?
  • Ist das meine Befindlichkeit?

Denn es kann sein, dass es sich gar nicht um deine eigenen Gedanken, Gefühle und Befindlichkeiten handelt. Wie oft kommt es vor, dass man sich anstecken lässt. Je sensibler du bist, desto offener kannst du für die Gedanken, Gefühle und Befindlichkeiten der Menschen deiner Umgebung sein. Da steigt man am Morgen ahnungslos in die U-Bahn und fühlt sich plötzlich so lustlos, wenn man an die Arbeit denkt, obwohl man sich eben noch darauf gefreut hatte….

Es ist die Intuition, die aus dem Bauch spricht, der gute Riecher für Gelegenheiten, Erfolge oder Risiken. Es ist immer wieder der Körper, der uns auf unsere Begrenztheit hinweist.
Das Wichtigste im Kontakt mit anderen ist deshalb innere Klarheit.

Wer von sich sehr wenig mitteilt oder wer die Themen nicht anschneidet, die ihn interessieren, der lässt dem anderen den Raum für sein Erzählen. Wenn du gleich nach der Begrüßung das Wort ergreifst, um von deinen eigenen Belangen zu sprechen, dann stellst du schon zu Anfang eines Gesprächs selbst die Weichen. Entweder kommt es zu einem tatsächlichen Gedankenaustausch oder der andere entzieht sich bald der Situation. In beiden Situationen hast du einen Sieg davongetragen!
Wer selbst aktiv in die Kommunikation geht, der verändert im Übrigen auch seine Anziehung.

Und wenn du der anderen Person gar nicht so viel von dir mitteilen möchtest, dann könnte es vielleicht ein Hinweis darauf sein, dass es an der Zeit ist, mehr Initiative zu entfalten: nämlich auf diejenigen zuzugehen, mit denen du dich lieber austauschen willst.

Um die Rede einer anderen Person abzukürzen und zu begrenzen, unterbreche deren Redefluss und fasse die Ausführungen kurz zusammen.

Bekunde kurz dein Verständnis und dein Mitgefühl. Und dann stell eine entscheidende Frage: Hattest du nicht schon mehrfach über diese Situation geklagt? Wäre es da nicht an der Zeit, einen Fachmann aufzusuchen, damit du professionelle Unterstützung erhältst?

Die Energie folgt unserer Vorstellung. Sie gehorcht eben ganz anderen Gesetzmäßigkeiten als die Materie, die durchaus nicht unseren Vorstellungen zu folgen bereit ist. Das heißt auch, dass wir die Energie programmieren können. Dazu reicht deine klare Absicht. Selbstverständlich kannst du diese Absicht jederzeit korrigieren, verändern oder spezifizieren. Doch wenn du sie zugleich anzweifelst, dann löst du ihre Wirkung auf. Es kommt eben auf deine Vorstellung an! Du kannst zum Beispiel eingeben, dass in einem Gespräch die Informationen durchkommen, aber die kleinen persönlichen Spitzen draußen bleiben. Du wirst sie wahrnehmen, doch sie treffen dich dann nicht mehr, und du wirst nicht so emotional darauf antworten.

Verhältnisse ordnen sich neu, wenn wir uns ändern. Wer sich entwickeln will, muss bereit sein, diesen Zoll zu zahlen: Die positiven Auswirkungen in der eigenen Seele dürfen es dir wert sein, denn durch deine Abgrenzung wird dein Bezug zu anderen klarer: Wer im Kontakt mit dir bisher eher auf den eigenen Vorteil geschaut hat, wird sich entfernen, diejenigen, denen es tatsächlich um dich als Person ging, werden bleiben, wenn du zu deinen Bedürfnissen stehst.

Grenzverletzungen zeigen uns unmissverständlich unsere Schwachstellen auf. Wenn wir diese Herausforderungen annehmen, schenken sie uns die Gelegenheit und den Anstoß, uns zu entwickeln.
Durch Abgrenzung entsteht Klarheit, Verhältnisse ordnen sich neu, Begegnungen verlaufen entspannter und kosten nicht mehr so viel Energie. Im Gegenteil, sie können stärken. Die Respektierung der Grenzen des Gegenübers schafft Vertrauen und ermöglicht Verlässlichkeit. Selbstbestimmt können wir anderen begegnen und uns auf Kontakte einlassen, Geborgenheit erleben, ohne uns selbst dabei zu verlieren.